Seien wir mal ehrlich: Vorbeugen und Rückbeugen spielen eine große Rolle im Yoga. Es gibt kaum eine Yogastunde, in der man nicht sieht, wie sich andere Yogis in einer stehenden Vorbeuge (Uttanasana) verbrezeln und ihre Nase zwischen die Knie stecken.
Vielleicht hast du aber auch den Eindruck, dass alle in deinem Yogakurs in der Lage sind, den Bauch in der sitzenden Vorbeuge (Paschimottanasana) auf den Beinen abzulegen – alle, außer: dir. Und dann ist da der Yogi neben dir, der die Wirbelsäule in der Kobra (Bhujangasana) wie ein Schlangenmensch zu verbiegen scheint. Vielleicht hast du dich damit abgefunden und der Wahrheit ins Auge geblickt: Du bist einfach steif und unflexibel. Punkt.
Allerdings ist es wichtig zu verstehen, dass Vor- und Rückbeugen nicht nur eine Frage der Flexibilität sind. Auch der Bewegungsumfang der beteiligten Gelenke spielt eine entscheidende Rolle. Während der Kampf um tiefere Vor- und Rückbeugen sicherlich mit verkürzten Muskeln der Oberschenkelrückseiten oder anderen Muskeln zu tun hat, kann die Ursache auch eine ganz andere sein: eine Gelenkblockade (Joint Lock), die durch das vollständige Durchstrecken der Knie oder Ellenbogen entsteht und somit deinen Bewegungsspielraum einschränkt.
Während deine Muskeln Zeit brauchen, um flexibler zu werden, hilft dir schon ein einziger Trick, sofort tiefer in diese Yogaposen zu kommen, indem du deinen Bewegungsradius vergrößerst.
In diesem Artikel lernst du:
1. Das Geheimnis tieferer Vorbeugen
Vorbeugen, wie z. B. Uttanasana (stehende Vorbeuge), dehnen die gesamte Rückseite des Körpers, von der oberen über die untere Wirbelsäule bis zu den Hüften und den Beinen. Da die meisten von uns den ganzen Tag lang sitzen, ist dies eine gute Möglichkeit, den Körper wieder zu strecken und der Verkürzung der Muskeln der Oberschenkelrückseiten durch Dehnung entgegenzuwirken.
Vorbeugen sind aber nicht nur für deine Muskeln und Gelenke gut, sondern sie massieren auch die Bauchorgane und regen die Verdauung an. Darüber hinaus können sie dazu beitragen, das zentrale Nervensystem zu beruhigen, Stress abzubauen und Müdigkeit, Kopfschmerzen und Schlaflosigkeit zu reduzieren.
Während so mancher Vorbeugen als sehr herausfordernde Posen empfindet, die den unteren Rücken und die Rückseiten der Beine stark beanspruchen, können sie bei richtiger Ausführung aber auch helfen, Verspannungen im unteren Rücken zu lösen.
1.1. Was hindert dich eigentlich daran, tiefer in die Vorbeuge zu gehen?
Der limitierende Faktor, der dich daran hindert, tiefere Vorbeugen durchzuführen, ist der Hüftbeuger bzw. ein bestimmter Muskel: der Musculus rectus femoris. Dieser ist Teil des Hüftbeugers und des Quadrizeps.
Er entspringt nahe der Vorderseite der Hüftgelenkskapsel, genauer gesagt am unteren vorderen Darmbeinstachel, auch AIIS (anterior inferior iliac spine) gennant, und am vorderen Teil der Hüftgelenkspfanne (Acetabulum). Die Hüftgelenkspfanne ist der schalenförmige Teil des Hüftknochens, wo der Oberschenkelknochen (Femur) auf die Hüfte trifft. Diese beiden Knochen bilden zusammen das Hüftgelenk. Der Musculus rectus femoris setzt am Kopf des Schienbeins (Tibia) zusammen mit den anderen Quadrizeps-Muskeln an.
Der M. rectus femoris ist somit der einzige Quadrizeps-Muskel, der sowohl die Hüfte als auch das Knie durchzieht. Deshalb ist dieser kräftige Hüftbeugemuskel nicht nur von der Position der Hüfte, sondern auch von der des Knies abhängig, um seine Funktion vollumfänglich erfüllen zu können: Er ist am stärksten, wenn das Knie gebeugt ist, während er deutlich an Kraft verliert, wenn das Knie gestreckt, d.h. blockiert, ist.
So entsteht durch die vollständige Streckung des Knies eine Gelenkblockade, auch Joint Lock gennant, im Becken, das dich daran hindert, den vollen Bewegungsspielraum deines Beckens zu nutzen. Dadurch ist deine Beweglichkeit eingeschränkt und hindert dich daran, in eine tiefere Vorbeuge und somit in den vollen Genuss von Posen wie Uttanasana zu kommen. Schau dir in dieser Grafik an, welchen Unterschied es macht, die Knie zu beugen, anstatt sie gestreckt zu halten:
1.2. Was dir zu tieferen Vorbeugen verhilft
Wie also kannst du dieses Wissen anwenden, um beispielsweise tiefer in deine stehende Vorbeuge zu gelangen? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns zunächst einmal ansehen, was im Beckenbereich und in der Lendenwirbelsäule passiert, wenn du Uttanasana praktizierst: das Gewicht des Oberkörpers und der Wirbelsäule zieht das Kreuzbein in die Richtung der Belastung, d. h. nach vorne und unten.
Das bedeutet, wenn du verkürzte Oberschenkelrückseiten hast und die Knie in der Vorbeuge gestreckt (und blockiert) hältst, ziehen die Oberschenkelrückseiten das Becken wie ein Seil nach unten. Folglich kommt der größte Teil der Beugung des Beckens aus der Lendenwirbelsäule.
Sind die Knie dagegen gebeugt, kann das Becken nach vorne kippen, sodass du dich vom Hüftgelenk statt von der Lendenwirbelsäule aus nach vorne beugen kannst, weil die Oberschenkelrückseiten das Becken nicht nach unten ziehen und es so frei nach vorn kippen und der Bewegung des Kreuzbeins folgen kann. So können sich Kreuzbein und Becken in die gleiche Richtung bewegen. Dadurch werden die sie umgebenden Muskeln und Bänder weniger stark beansprucht.
Dieses Zusammenspiel der Bewegung des Beckens und der Lendenwirbelsäule im Verhältnis zueinander spielt eine entscheidende Rolle bei Vorbeugen. Im Idealfall sollte eine Vorbeuge vorwiegend aus dem Becken und nicht aus der Lendenwirbelsäule kommen.
Wenn man sich dieses Bewegungsmusters bewusst ist, versteht man, weshalb sich der Bewegungsradius von Hüfte und Becken vergrößert, wenn man in Uttanasana die Knie zunächst gebeugt hält und sich dadurch tiefer nach vorn beugen kann.
Bring das Becken in die gewünschte Position, indem du das Kreuzbein tiefer sinken lässt und das Steißbein näher an das Schambein ziehst, bevor du damit beginnst, deine Knie zu strecken. Vermeide es in jedem Fall, die Knie zu blockieren, indem du deine Hände gegen die Rückseite der Knie drückst, um einen leichten Widerstand zu erzeugen. Wenn deine Oberschenkelrückseiten verkürzt sind, wird diese Handlung deine Muskeln stark entlasten.
Tiefere Vorbeugen sind also keine Frage der Flexibilität mehr, sondern der richtigen Technik. Da eine korrekte und gesunde Technik für alle Yogaposen unerlässlich ist, haben wir ein kostenloses eBook kreiert, das grundlegende Ausrichtungsprinzipien im Yoga zusammenfasst, um deine Yogapraxis sicher und effizient zu gestalten.
2. Wie du ganz einfach tiefere Rückbeugen praktizieren kannst
Jetzt, wo du einen Weg gefunden hast, mehr von deinen Vorbeugen profitieren zu können, möchtest du vielleicht genau das Gleiche in Rückbeugen erleben. Die gute Nachricht ist: Es braucht keine Magie, um das zu erreichen. Ein grundlegendes Verständnis der Anatomie der Schultern und Ellenbogen reicht aus.
Deine erste Frage könnte natürlich sein, ob du überhaupt tiefere Rückbeugen in deine Yogapraxis einbauen musst. Die Antwort ist einfach: Du musst nicht, aber Rückbeugen sind eine tolle Praxis, um die Vorderseite des Rumpfes, die Arme und die Schultern zu dehnen. Sie helfen dir dabei, die Flexibilität deiner Wirbelsäule zu erhöhen und können Rückenschmerzen reduzieren. Deshalb können tiefere Rückbeugen wirklich nützlich sein – allerdings nur unter bestimmten Bedingungen.
Sie können nämlich auch Rückenschmerzen verursachen, wenn sie falsch ausgeführt werden und den unteren Rücken stauchen. Dies passiert insbesondere dann, wenn sich die Schultern nicht nach hinten bewegen. Vielleicht hast du aber den Eindruck, dass du z. B. in der Kobra gar keinen Bewegungsspielraum hast, um die Schultern nach hinten zu bewegen. Der Grund dafür ist auch hier wieder eine Gelenkblockade (Joint Lock). Diesmal entsteht diese Blockade, die dich daran hindert, tiefer in die Rückbeuge zu kommen, in der Schulter, nämlich wenn der Ellenbogen vollständig gestreckt ist.
2.1. Weshalb tiefere Rückbeugen keine Frage der Flexibilität sind
Im Grunde gilt hier dasselbe Prinzip, welches dich auch daran hindert, tiefer in die Vorbeuge zu kommen: Die vollständige Streckung des Ellenbogens führt zu einem Joint Lock in der Schulter, wodurch letztendlich deine Fähigkeit, in eine tiefere Rückbeuge zu gehen, z. B. in der Kobra (Bhujangasana), eingeschränkt ist.
Strecke einmal deine Armen vollständig nach vorn aus: Der Bewegungsradius in deinem Schultergelenk ist sehr begrenzt. Wenn du jedoch die Ellenbogen beugst, vergrößert sich der Bewegungsspielraum. Spürst du den Unterschied? Der Grund dafür ist ähnlich dem Grund, warum sich der Bewegungsspielraum in deinem Becken vergrößert, wenn du die Knie beugst.
Die für die Beugung des Ellenbogens verantwortlichen Muskeln bilden eine Muskelgruppe, die den Brachialis, Bizeps brachii und Brachioradialis umfasst. Diese Muskeln beugen den Arm, indem sie den Winkel zwischen Unterarm und Oberarm verkleinern. Der lange Bizeps brachii verläuft entlang der Vorderseite des Oberarmknochens (Humerus) vom Schulterblatt (Scapula) bis zum Radius, einem der beiden Unterarmknochen. Das bedeutet, dass er die Schulter und das Ellenbogengelenk durchzieht und die Beweglichkeit der Schulter einschränkt, wenn der Ellenbogen vollständig gestreckt ist.
Deshalb solltest du die Ellenbogen gebeugt halten, wenn du in Bhujangasana gehst, um deine Schultern weiter nach oben und hinten zu bewegen. Wenn du also die Kobra-Pose übst, beginne mit gebeugten Ellenbogen und zieh den Oberarm zurück in die Schultergelenkspfanne. Erst dann streckst du die Arme durch. Dadurch bekommst du sofort mehr Bewegungsspielraum und kannst tiefer in die Rückbeuge gehen.
2.2. Tiefere Rückbeugen ohne Kompression der Wirbelsäule
Auch wenn dein Schwerpunkt auf tieferen Rückbeugen liegen mag, sollte deine erste Priorität darin bestehen, eine Kompression im unteren Rückenbereich zu vermeiden. Auch hier hilft dir das Beugen der Ellenbogen, um mehr Bewegungsfreiheit im Schultergelenk zu erhalten.
Wenn du z.B. in Bhujangasana die Ellenbogen vollständig streckst – oder sogar überstreckst –, wird die Kraft, die dadurch entsteht, dass die Hände in die Matte drücken, auf deinen unteren Rücken gelenkt. Das solltest du unbedingt vermeiden. Im Idealfall wird die Kraft zunächst über die Längsachsen des Unterarms und des Oberarms in die Schultern und erst dann in den Rumpf und das Becken geleitet. Zusätzlich zur leichten Beugung der Ellenbogen kannst du dies erreichen, indem du die Hände unter den Schultern platzierst, sodass die Unterarme vertikal ausgerichtet sind, anstatt die Hände weiter vorne auf der Matte zu platzieren.
Aber wie kannst du deine Wirbelsäule entlasten? Indem du den Oberkörper wie oben beschrieben nach oben streckst und den Unterkörper nach unten schiebst. Hier hast du vielleicht den Eindruck, dass verkürzte Hüftbeuger die Bewegung des Beckens behindern und dadurch ein Gefühl der Kompression im unteren Rücken erzeugen, wenn du dich z. B. in die Kobra bewegst.
Du brauchst mehr Bewegungsspielraum in der Hüfte, um den Unterkörper nach unten zu schieben. Wie kannst du das erreichen? Genau! Indem du deine Knie beugst. In der Kobra heißt das konkret, dass du dein Gesäß anheben und deine Knie weiter zu dir heranziehen musst. Anschließend ziehst du das Schambein in Richtung Bauchnabel und ziehst den Bauchnabel ein. Dadurch wird deine Rumpfmuskulatur aktiviert und schützt so deinen unteren Rücken, um dich sicher in eine tiefere Rückenbeuge zu führen.
Wenn dies zu viele Informationen sind, um sie auf einmal zu verdauen, kannst du diese Tipps zur Ausrichtung entweder später noch einmal lesen oder einfach unser kostenloses eBook über die Grundlagen der Ausrichtung im Yoga als Schnellanleitung herunterladen.
3. Warum der Kampf mit der Flexibilität ein Ende hat
Das Problem ist, dass Gelenkblockaden deinen Bewegungsspielraum in so gut wie jeder Asana beeinträchtigen. Fällt dir eine Yogapose ein, bei der du den Bewegungsumfang deines Beckens oder deiner Schultern nicht benötigst? Abgesehen von Savasana – wo du dich überhaupt nicht bewegst – kommen dir wahrscheinlich nicht viele Asanas in den Sinn.
Joint Locks verhindern nicht nur, dass du dich in Uttanasana tiefer nach vorn oder dich in der Korba tiefer nach hinten beugen kannst, sondern du riskierst auch, dass du deine Hüft- und Schultergelenke und die umgebenden Muskeln zu stark belastest, wenn du versuchst, den Mangel an Bewegungsumfang durch eine Überdehnung der Muskeln auszugleichen, du dich also in Vorbeugen hineinziehst oder dich in der Kobra zu weit nach oben drückst.
Abgesehen davon können Joint Locks sogar zu einer Überstreckung führen. Die Überstreckung eines Gelenks, dass dein Körpergewicht trägt, ist nicht nur gefährlich für das Gelenk, sondern kann auch die Bänder, Knorpel und andere Strukturen, die das Gelenk stabilisieren, beschädigen. Im Laufe der Zeit kann eine wiederholte Überstreckung zu Schmerzen und Verletzungen führen – und muss letztlich vielleicht sogar operativ behandelt werden.
Überstreckung lässt sich vermeiden, indem du die Muskeln um das Gelenk herum aktivierst. Dadurch wird das Gelenk geschützt, weil das Gewicht so auf die umgebenden Muskeln verteilt wird und nicht die Knie oder die Ellenbogen die ganze Haltearbeit verrichten müssen. Die Muskeln, die deine Gelenke stützen, können so nämlich in einer Weise arbeiten, die bei Überstreckung nicht möglich ist.
So verhilft dir das Auflösen von Joint Locks in der Yogapraxis zu mehr Bewegungsfreiheit und ermöglicht dir tiefere Vor- und Rückbeugen.
Wenn du bisher in deinen Yogastunden ständig mit deiner Beweglichkeit gekämpft hast, wird dies sofort einen großen Unterschied in deiner Praxis ausmachen, weil sich deine Schulter- und Hüftbeweglichkeit auf einen Schlag verbessert. Und wer weiß? Vielleicht kannst du dich bald wie ein Schlangenmensch in deinem Yogakurs bewegen.
4. Wie du tiefer (in das Thema) eintauchen kannst
Wenn du mehr über dieses und andere häufige Ausrichtungsfragen im Yoga erfahren möchtest, schau dir unser Inside Yoga Alignment an, in dem du Schritt für Schritt durch einige der wichtigsten Yogaposen geführt wirst und über eine Reihe weit verbreiteter Irrtümer über die korrekte Ausrichtung im Yoga aufgeklärt wirst. Darin findest du auch einen ganzen Themenblock zu Rückbeugen, einschließlich Kobra (Bhujangasana), sodass du nicht nur deine Vor- und Rückbeugen vertiefen kannst, sondern auch dein Wissen über weitere Yogaposen vertiefen kannst. Du wirst sicherlich mehr als einen AHA-Moment erleben!